03 Journal Tirana 2

„Der wohl größte Kulturskandal seit dem Fall des Kommunismus“

Das Nationaltheater in Tirana ist abgerissen – Proteste und internationale Reaktionen

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17. Mai 2020

Im Schutz der Nacht rückten die Bagger an, um die Fassade des Albanischen Nationaltheaters in Tirana einzureißen. 1500 Polizisten haben am Sonntag gegen 4.30 Uhr unter Einsatz von Tränengas das Gebäude gestürmt und 20 Besetzer:innen des Theaters festgenommen. Die Allianz zum Schutz des Theaters hatte das historisch bedeutende Gebäude aus den 1930er Jahren seit Juli vergangenen Jahres  Tag und Nacht besetzt gehalten, zuletzt auch unter den verschärften Bedingungen durch die Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der Pandemie. In einem Monate andauernden Festival fanden Woche für Woche Solidaritätsaufführungen und Konzerte albanischer und internationaler Künstler:innen statt.                                                                                                                              

Am 21. Dezember 2019 waren wir mit einer FROST Vorstellung – deutsch mit albanischen Übertiteln (Lindita Komani hat übersetzt) zur Unterstützung der Proteste im besetzten Nationaltheater Tirana zu Gast.

Mit dem „handstreichartigen Abriss“, so die taz, haben die Regierung unter Ministerpräsident Edi Rama und die Stadtverwaltung von Tirana vollendete Tatsachen geschaffen für ihren Plan, mitten im historischen Stadtzentrum anstelle des Theaters eine Shopping Mall zu errichten. Der albanische Staatspräsident Ilir Meta bezeichnete die Zerstörung als ein „juristisches und moralisches Verbrechen“. Meta hatte die Unterschrift unter ein Anlassgesetz verweigert, durch das Ministerpräsident Edi Rama die Übertragung öffentlichen Eigentums an eine der Regierungspartei nahestehende Baufirma zum Bau der Shopping Mall legalisieren wollte. Die Theaterallianz hofft auf europäischen Einfluss auf die Regierung des EU-Beitrittskandidaten Albanien. Die Vertreter:innen der albanischen Zivilgesellschaft sind bereit weiterzukämpfen: „Wir haben das Gebäude vermessen und können es auch wieder aufbauen, wenn es Unterstützung dafür gibt.“

Für die Süddeutsche Zeitung ist der Abriss des Albanischen Nationaltheaters „Der wohl größte Kulturskandal seit dem Fall des Kommunismus“. Unter Rama verschwinde, so der SZ-Autor Florian Hassel, ein historisches Gebäude nach dem anderen. Die Stadt werde mit Wolkenkratzern und Apartmentblocks überzogen und verliere so nach und nach ihre Geschichte.

Das Theaterportal Nachtkritik verweist darauf, dass der gerade geschliffene Theaterbau kürzlich erst von Denkmalschutzorganisation Europa Nostra in der Liste der sieben meistgefährdeten Baudenkmäler Europas geführt wurde.

Eine ausführliche Analyse des Konflikts und seiner Geschichte liefert Anja Troelenberg von der Heinrich Böll Stiftung.


Update 18. Mai 2020
Heute würdigt Peter Münch in der SZ die Rolle, die das 1939 im futurischen Stil errichtete Baudenkmal des italienischen Architekten Giulio Bertè in der jüngeren Geschichte des Landes spielte. Von den Schauprozessen unter dem kommunistischen Diktator Enver Hoxha, über die Gründung des nationalen Schriftstellerverbandes, dem Beginn regelmäßiger Opern- und Theateraufführungen sind Höhen und Tiefen der albanischen Nachkriegsgeschichte mit dem Theater verbunden.


19. Mai 2020
In DER STANDARD fasst die Korrespondentin Adelheid Wölfl die Ereignisse um den Abriss des Theaters zusammen und nimmt an der Regierung Edi Rama „immer stärker autoritäre Züge“ wahr.


25. Mai 2020
Die französische Tageszeitung Le Monde nennt die Demolierung des Theater einen „Akt der Barbarei“. Für Liberation richtet sich der Protest in Albanien nicht allein gegen die Zerstörung von Kulturgütern, sondern schlicht gegen das drohende Abgleiten des Landes in die Diktatur.

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